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fragwürdige Bildungsoffensiven
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von Cerny ©1992-2011 - zuletzt überarbeitet: 26.06.2011
 

Das deutsche Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - oder kurz: das Bundesfamilienministerium - empfiehlt auf dessen Website Existenzgründerinnen öffentlich, sie sollten vielleicht eine Firma (u.a.) im Bereich der „Freizeit-Industrie” eröffnen - weil es sich hierbei (wortwörtlich) um eine „Zukunftsbranche des 21. Jahrhunderts” handeln würde, mit einem „Umsatzpotenzial in Milliardenhöhe”.

Unter der Oberfläche will also das Bundesfamilien(!)ministerium tatsächlich und vollabsichtlich dazu beitragen, dass Menschen - damit zwangsläufig auch: Familien - ihre Freizeit mit Konsum verbringen, womöglich sogar mit Computerspielen; und nicht etwa mit Spaziergängen im Wald, mit Fußballspielen im Stadtpark oder mit heimischen Brettspiel-Abenden.

Eine andere Empfehlung dieses Bundesministeriums lautet, sich alternativ auf dem Gesundheitssektor selbstständig zu machen, und zwar wörtlich: „Auch wenn die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis zum Jahr 2050 von derzeit rund 16,5 auf 10,4 Millionen sinken wird, zeichnet sich dieser Markt durch immer neue Bedarfsfelder aus. So stieg die Zahl der Heranwachsenden mit Übergewicht zwischen 1985 und 2000 um die Hälfte, was eine stärkere Nachfrage nach Ernährungs- und Fitnessberatung mit sich bringt”.

Um das einmal deutlich hervorzuheben: das Bundesfamilienministerium sagt also nicht(!) „...so stieg die Zahl der Heranwachsenden mit Übergewicht zwischen 1985 und 2000 um die Hälfte. Wir unternehmen jedoch alles mögliche, um das zu ändern, weshalb es sich nicht anbietet, auf diesem Markt als Existenzgründerin aktiv zu werden”, sondern... im genauen Gegenteil!

Auf der einen Seite fördert also ausgerechnet das Bundesfamilienministerium die Auffassung, dass Freizeitgestaltung mit dem Konsum dessen zusammenhängt, was eine „Freizeit-Industrie” zur Verfügung stellt, und fördert dadurch gleichzeitig auch die Lethargie, also Antriebs- und Teilnahmslosigkeit und Passivität von Kindern.
Die Folgeschäden daraus für diese Kinder wiederum werden als lukrativer „Markt” mit „immer neuen Bedarfsfeldern” bezeichnet - und zwar gleichfalls ausgerechnet vom Bundesfamilienministerium.

Doch wie passt dieses scheinbare Paradoxon mit diversen „Bildungsoffensiven” der Regierung zusammen? Es passt dummerweise sogar wunderbar zusammen. Der Knackpunkt unter der Oberfläche nämlich liegt darin, dass es sich bei „dem Staat” um eine Volkswirtschaft handelt! „Der Staat”, ist nichts anderes als ein sehr, sehr großes Wirtschaftsunternehmen, das u.a. an Produktivität („Leistungsfähigkeit” der Bürger), Effizienz (Haushalt) und Gewinn (Steuern, Abgaben, etc) ausgerichtet ist.

Um dieses Wirtschaftsunternehmen namens „Staat” am Laufen zu halten, werden leistungswillige und leistungsfähige Bürger benötigt, die eine ganz bestimmte Form von Bildung besitzen: Eine Bildung auf das reduziert, was zur Leistungsfähigkeit beiträgt und gebraucht wird, um dieses System aufrecht zu erhalten und die darin erforderlichen Rollen zu besetzen: Forscher, Ärzte, Ingenieure, Handwerker, Beamte, Banker, Lehrer, Putzfrauen, Müllmänner, etc, etc.
Dazu gehört übrigens tatsächlich auch ein gewisser Bedarf an Arbeitslosen, die sich durch Weiterbildung und Umschulungsmaßnahmen auf die Bereiche umverteilen lassen, wo ein Mangel an Arbeitskräften herrscht.

Exact dasselbe Prinzip liegt der Schulbildung zu Grunde: es geht in erster Linie darum, aus den Kindern die zukünftigen „Leistungsträger” zu machen, und sie mit dem dafür erforderlichen Grundwissen auszustatten, das später durch Ausbildung bzw. Studium spezialisiert wird.
Wobei es auch hier ebenso „wichtig” ist, dass eine gewisse Zahl von Kindern „nicht ganz so gebildet” ins Berufsleben geht, weil schließlich außer Akademikern auch jede Menge einfacher Arbeiter benötigt werden, vom Müllmann bis zur Putzfrau.
Nebenbei geht es um das pädagogische Ziel, die Kinder zu „nützlichen(!) Mitgliedern der Gesellschaft” zu machen, die sich in dieses ganze System möglichst widerstandslos und dauerhaft einfügen (lassen).

Was damit als so genannte „Bildungs- und Wissensgesellschaft” propagiert und in Form von „Bildungsoffensiven” seitens Regierung und Wirtschaft zusätzlich forciert wird, ist nichts anderes als eine Optimierung des Systems - weshalb es nur um die Art von „Bildung und Wissen” geht, die für dieses System zweckdienlich ist; und allenfalls zweckdienlich für den Einzelnen, um darin irgendwie zurecht zu kommen; eine Beschränkung auf reine Sach- und Fachkompetenzen.

Und das bedeutet im Umkehrschluss: es geht nicht um irgendeine andere Art von Bildung und Wissen, wie z.B. literarische, dichterische, philosophische oder sonstige (künstlerische) Bildung, weil die (Volks-)Wirtschaft vorwiegend Ärzte, Ingenieure und Handwerker benötigt und deutlich weniger Dichter und Denker und Bildhauer, die deutlich weniger bis gar nichts zu Bruttoinlandsprodukt und Exportüberschuss beitragen, und somit das System eher gefährden als ihm nützen.

Auf einen Punkt gebracht: es ist eine „Bildung” gefragt, die sich ausschließlich auf die Notwendigkeiten des Systems beschränkt, und dabei noch gleichzeitig so viel Naivität übrig bleibt, um dessen Weltbild und Glaubenssätze nicht allzu kritisch zu hinterfragen, geschweige denn: das System an sich in Frage zu stellen.

„Das System” heißt hier: das Wohl und Wehe der Menschen, sogar die Zukunft ganz generell auf das rein Wirtschaftliche zu reduzieren bzw. vornehmlich davon abhängig zu erklären und zu machen, von dem, was sich finanzieren lässt, was „sich lohnt”, was „sich rechnet”, was kalkuliert und prognostiziert werden kann.
Und das beginnt nicht erst „auf höchster Ebene”, wo in den Bundesministerien die Bereiche „Bildung und Forschung” zusammengelegt wurden, sowie die Bereiche „Wirtschaft und Technologie”, sowie „Arbeit und Soziales” als seien genau das und nichts anderes jeweils die Bereiche, die zusammengehören würden. Sondern es beginnt sehr viel weiter vorn: bei der Denkweise, die dem allem zugrunde liegt.

Nämlich: die Denkweise einer „Alten Kompetenz” des 17. Jahrhunderts, im Falle von „Bildung und Wissen” ausgehend von Sir Francis Bacon, der im Jahr 1607 nicht nur die Verfahrensweise der Empirie erfand, sondern auch den noch heute, im 21. Jahrhundert alle Nase lang zitierten Spruch „Wissen ist Macht” prägte.

Geblendet vom allseits propagierten praktischen Zweck und Nutzen dessen, was man heute als „Bildung” und „Wissen” bezeichnet, erkennt kaum noch jemand, welches Verständnis und welche Auffassung damit eigentlich verbunden sind.
Beispielsweise: die Abwendung vom Glauben; womit keineswegs irgendein religiöser Glaube gemeint ist, sondern alles, was generell unter das „Nicht-Wissen” fällt, wie Intuition, Vertrauen, Erfahrung, „gesunder Menschenverstand” (u.v.m.).

Alles das wird durch den Glaubenssatz „Wissen ist Macht” als minderwertig, als potenziell und tendenziell falsch und als grundsätzlich zweifelhaft abqualifiziert. Alles das hat heute nicht die geringste Chance, gegen Zahlen, Daten, Statistiken, Studien, Tortengrafiken und vermeintliche Fakten zu bestehen.

Wer sich bei einer Entscheidung hochgradig unwohl fühlt, der muss sich sagen lassen, dass sein ungutes Gefühl irrelevant ist, weil irgendwelche „Fakten und Nachweise” dem gegenüber völlig unzweifelhaft seien.
Selbst wer unbezweifelbare, höchstpersönliche Erfahrungen gemacht hat, der muss sich sagen lassen, dass irgendeine Statistik dagegen spricht, und er damit allenfalls noch als (ggf.: „bedauerlicher”) Einzelfall glaubwürdig ist.
Selbst wer seinen Job verliert und unter sehr dummen Umständen durch sämtliche Raster des Sozialstaates fällt und mit seinen drei Kindern vor der Obdachlosigkeit steht, darf sich anhören, dass das immer noch irgendwie „sozialverträglich” ist. Nur beispielsweise.

Alles das gehört mit dazu, wenn heute „Bildung” und „Wissen” nahezu unablässig beschworen werden, und das mehr oder weniger unterschwellig in Verbindung mit dem Glaubenssatz „Wissen ist Macht”: Macht hat demnach eben ausschließlich nur derjenige, der das „Wissen” über Zahlen, Daten, Fakten, Studien, Statistiken und Tortengrafiken besitzt - und mehr Macht hat demnach immer derjenige, der über mehr „Wissen” verfügt: eine Behörde, eine Abteilung, ein Computer, ein Experte.

Wer sich dagegen auf „nichts weiter” als auf seine Intuition, Vertrauen, auf seine Erfahrung und „gesunden Menschenverstand” stützt, ist demnach ohne brauchbares Wissen und ohne Macht (im wortwörtlichen Sinne: ohnmächtig) einer „wissenden Elite” ausgeliefert (z.B. Bürokraten, Berater, Wissenschaftler, Experten aller Art), die dem Otto Normalbürger unablässig erklärt, wie wichtig „Bildung und Wissen” seien - womit sich der Kreis auf annähernd geniale Weise schließt.

 

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