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Zahlenspielereien
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von Cerny ©1992-2011 - zuletzt überarbeitet: 26.06.2011
 

Ein geflügelter Spruch: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast”, in dem nicht nur ein kleines Körnchen Wahrheit steckt. In der Tat wird gerade mit Zahlen heute ein erschreckendes Unwesen getrieben - von solch erschreckender Normalität und Selbstverständlichkeit, dass ihre Aussagekraft nur noch in eher seltenen Ausnahmefällen hinterfragt wird.

Der Stolperstein, der noch heute regelmäßig zum kollektiven Massensturz führt, wurde dabei schon im 17. Jahrhundert platziert. Genauer: von Galileo Galilei, der im Jahr 1632 definierte, dass sich nur als „Wissenschaft” bezeichnen darf, was sich mathematisieren lässt.
Zwar hatte Galilei damals nichts anderes als materielle Körper und geometrische Formen im Sinn, doch um sich ebenfalls das Etikett der „Wissenschaftlichkeit” aufpappen zu können, wurde der Maßstab der Mathematisierungsfähigkeit über die Jahrhunderte klammheimlich auch auf Bereiche übertragen, die mit mathematischen Berechnungen nicht das geringste zu tun haben. Nämlich auf Bereiche, die sich mit dem Denken und Verhalten beschäftigen, mit Gemüt und Bewusstsein („Psyche”), mit Situationen und Abläufen aller Art.

Das ist - unter der Oberfläche - der tatsächliche Grund, warum heute mit Zahlen nur so um sich geworfen wird, warum permanent nach Studien und Statistiken verlangt und sich darauf berufen wird, um Entscheidungen zu rechtfertigen: nicht, weil diese Zahlen, Daten und die daraus gebastelten Tortengrafiken tatsächlich irgendeine Relevanz hätten, sondern um das Ganze „Wissenschaft” nennen zu können mit dem bloßen Anschein von Exactheit, Neutralität und „Objektivität”.

Der Knackpunkt ist: im Gegensatz zu den Einsatzgebieten der (z.B.) Physik und Geometrie, wo sich materielle Körper und Formen hochpräzise vermessen und berechnen lassen, ist das beim Denken und Verhalten von Menschen, bei Geist und Bewusstsein, bei Situationen und Abläufen eben nicht möglich.
Sondern: vielmehr müssen alle diese Zahlen (wie immer man sie auch „ermittelt” hat) immer und in jedem Fall in einen Zusammenhang gesetzt und interpretiert(!) werden. Doch Interpretation ist nun einmal absolut subjektiv und damit das genaue Gegenteil dessen, was man unter („objektiver”) Wissenschaft versteht und das genaue Gegenteil des Anspruches, den die Wissenschaft selbst erhebt.

Beispielhaft für solche Interpretationsmöglichkeiten zu nennen, die das Gegenteil der Exactheit sind, die man von Wissenschaft erwartet, ist die „nachgewiesene” Behauptung, dass das Reisen im Flugzeug deutlich sicherer sei als Bahnfahren, da je zurückgelegtem Kilometer in der Bahn dreimal so viele Menschen sterben, wie im Flugzeug. Jedoch: es verhält sich genau umgekehrt, wenn man die Verkehrstoten nicht auf die Kilometerstrecken bezieht, sondern auf die Reisedauer. Dann nämlich sterben pro Stunde im Flugzeug dreimal so viele Menschen wie in der Bahn - und zwar ebenfalls „nachgewiesen”, da es sich um ein- und dieselbe Statistik handelt.

Wenn es also oftmals so schön heißt „Die Zahlen lügen nicht”, dann stimmt das immerhin insofern, als dass sie weder lügen noch überhaupt etwas aussagen. Es sei denn eben, man gibt(!) diesen Zahlen eine Aussagekraft, indem man sie interpretiert - und genau an dieser Stelle wird die Angelegenheit... knifflig.

Auch hier beispielhaft: in einer bestimmten Region Deutschlands ist die statistische Kriminalitätsrate sprunghaft angestiegen. Prompt wird über die Medien die Frage aufgeworfen, ob sich der Bürger überhaupt noch sicher fühlen kann. Jedoch: wie der zuständige Polizeichef meinte, findet in seinem Bezirk keineswegs mehr Kriminalität statt als früher, sondern es werden mittlerweile mehr Polizeibeamte eingesetzt, die dem entsprechend mehr ermitteln und mehr Straftaten verfolgen, wonach der Bürger eben nicht gefährlicher, sondern sicherer lebt.
Wie Kriminologen in Bezug auf Kriminalitätsstatistiken immer wieder hinweisen, ist das Ganze nicht nur abhängig davon, wie viele Straftaten überhaupt angezeigt bzw. ermittelt werden (Stichwort „Dunkelziffer”), sondern schon der Begriff „Kriminalität” ist eine reine Interpretationsfrage: was genau ist „kriminell” und was (noch) nicht?

Noch um einiges prekärer, weil noch um einiges tiefer unter der Oberfläche, lauert die jeweilige Idee hinter einer Statistik und Datenerhebung. Denn:
Wenn jemand auf die Idee kommt, die Verkehrstoten zu zählen und anhand der einzelnen Verkehrsmittel zu sortieren, wenn jemand anderer auf die Idee kommt, Straftaten zu zählen und etwaige regionale Anhäufungen auszuwerten, und wenn jemand anderer auf die Idee kommt, die Kunden seines Unternehmens nach deren Zufriedenheit zu befragen u.ä., dann sind das durchaus legitime Beweggründe mit denen ein durchaus legitimer Zweck verfolgt wird.

Etwas anderes ist es jedoch, wenn eine Zeitung eine Umfrage in Auftrag gibt, ob und wieviele Menschen sich „die Berliner Mauer wieder zurückwünschen”, wie vor ein paar Jahren geschehen, mit dem angeblichen Ergebnis, dass das bei rund 20% der Menschen der Fall sei - wodurch „die Mauer in den Köpfen” von jeweils Ost- und Westdeutschen einige Tage die Schlagzeilen beherrschte.
Man muss sich dazu vorstellen, dass im Rahmen der Redaktionskonferenz einer Zeitung die übliche Frage gestellt wurde, mit welchem Aufmacher die nächsten Ausgaben erscheinen sollen; und das üblicherweise eben in Form einer möglichst großen Aufmerksamkeitsstärke(!). Wobei ein Redakteur offenkundig auf die Idee kam, von einem Meinungsforschungsinstitut ermitteln zu lassen, ob und wieviele Deutsche sich „die Mauer wieder zurückwünschen”; was ebenso ganz offenkundig für eine „gute Idee” gehalten und als Aufmacher verwendet wurde.

Apropos „Aufmerksamkeit”: Zahlen, Daten und Statistiken sind bestens geeignet, um die Aufmerksamkeit von Menschen sehr unauffällig in bestimmte Richtungen zu lenken - nicht selten werden Zahlenspielereien nur deshalb überhaupt betrieben. So lassen sich Menschen allzu oft durch die scheinbare Exactheit von Zahlen, meist in Verbindung mit dem Anschein von „Wissenschaftlichkeit” täuschen. Die meisten haben nie gelernt, auf das zu achten, was sich hinter Zahlen versteckt.

Wenn es etwa heißt, dass sich Top-Models in der Modebranche durchschnittlich im recht jungen Alter von 29 Jahren scheiden lassen, dann liegt das weniger an ihrem Beruf, sondern es liegt hauptsächlich daran, dass Top-Models in der Regel ab dem Alter von 30 Jahren nicht mehr als Model aktiv sind. Es ist also nahezu unmöglich, überhaupt ein Top-Model über 29 Jahre zu finden - ganz davon abgesehen, ob es verheiratet ist und/oder sich scheiden lässt.

Ähnliches gilt für Ergebnisse von Umfragen: selbst wenn es heißt, dass für eine so genannte „repräsentative” Umfrage rund 1.200 „per Zufall ausgewählte” Menschen befragt wurden, kann der Haken schon einmal in der Vorgehensweise liegen, dass solche Meinungsforschungen in aller Regel per Telefon stattfinden. Das nämlich heißt schon einmal, dass die Meinung von Obdachlosen ohne Telefonanschluss nicht erfasst wird. Und es heißt, dass sich durch die Uhrzeit der Anrufe sehr elegant das vermeintliche Meinungsbild „anpassen” lässt: wird etwa zwischen 11h00 und 14h00 angerufen, erreicht man sicherlich mehr Arbeitslose als Berufstätige.

Zu dieser allgemeinen Ver(w)irrung gesellt sich zwangsläufig die Ehrfurcht vor dem Computer: in einer Zeit, in der Zahlen, Daten, Berechnungen, Kalkulationen und Statistiken regieren, wird der Computer mit seiner Rechenleistung zum Maß aller Dinge, der gänzlich frei von menschlichen Unzulänglichkeiten und „gesundem Menschenverstand” die ungeschminkte Wahrheit verkündet - weshalb man ihm und seinen Programmen getrost Entscheidungsgewalt verleihen darf.

So ziemlich jeder wird bereits mindestens ein Mal mit einem Problem zu tun gehabt haben, bei dem ihm ein Computer im Weg stand: bei einer Behörde oder einem Kundenservice beispielsweise. Es wird darauf verwiesen, was „der Computer sagt”, was „er berechnet” hat und auf dem Monitor zu lesen ist; was zwangsläufig absolut korrekt und die unzweifelhafte Wahrheit sein muss. Auch dann, wenn der jeweilige Beamte oder Sachbearbeiter nicht die geringste Ahnung hat, was sein Computer überhaupt mit welchen Daten auf welche Weise berechnet - was er auch „nicht wissen muss”, denn er ist schließlich kein Computerspezialist, und damit wird die Angelegenheit für erledigt erklärt.

Wenn Computerprogramme dann auch noch immer wieder gern als „künstliche Intelligenz” bezeichnet werden, vermittelt das unterschwellig, als würde Intelligenz (und damit eben auch: menschliche Intelligenz) nichts anderes umfassen, als ein bloßes Abspeichern und Verarbeiten von Zahlen und Daten - wodurch jedwede Emotion, Empathie, Zuversicht, Glaube und sämtliche sonstigen Qualitäten ganz nebenbei als unwichtig(er) oder gar irrelevant erscheinen - zum Beispiel auch: gesunde Skepsis und Kritikfähigkeit.

 

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