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Expertentum
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von Cerny ©1992-2011 - zuletzt überarbeitet: 26.06.2011
 

Um das gleich vorweg festzustellen: das Expertentum ist natürlich keineswegs etwas grundsätzlich Negatives. Eher im Gegenteil kann es hochgradig zweckmäßig, nützlich und hilfreich sein, wenn sich Fachleute um Wasser- und Elektroleitungen, um Reparaturen von technischen Anlagen, um den Hausbau oder auch um eine medizinische Notfallversorgung kümmern. Das steht insoweit völlig außer Frage.

Äußerst kritisch hinterfragt werden sollte jedoch jedes vermeintliche „Expertentum”, bei dem es nicht um (zum Beispiel) Handwerk und Ingenieurwesen geht, sondern um das Denken und Verhalten, um die Psyche, um Kultur und Zusammenleben im Allgemeinen, sowie um zwischenmenschliche Beziehungen aller Art u.ä. im Besonderen, sowie um das Bewerten und Beurteilen des Denkens und Verhaltens, etwa per Umfragen und Meinungsforschung, per Psychoanalysen und psychischer Gutachten, per Einstellungstests und Notengebung in der Schule im Speziellen.

Denn: es werden Soziologen, Psychologen, Pädagogen, etc, etc als „Experten” betrachtet und bezeichnet, nicht etwa, weil sie öfter als jeder Otto Normalbürger mit Menschen zu tun hätten, mehr zwischenmenschliche Konflikte gelöst oder mehr Kinder erzogen hätten als jeder Otto Normalbürger - sondern, weil sie mehr Fragebögen ausgewertet und mehr Studien gelesen und mehr Statistiken auswendig gelernt haben. Wobei dasselbe fragwürdige Etikett vermeintlichen Expertentums auch an jedem so genannten „Wirtschaftswissenschaftler” pappt.

Was hier unter der Oberfläche verborgen liegt, ist der bloße Schein, man könne das menschliche Denken und Verhalten, Probleme, Vorgänge und situative Abläufe anhand schnöder Zahlen und bunter Tortengrafiken mit derselben Präzision analysieren und beurteilen, wie tatsächliche Experten mit einem Elektronenrastermikroskop arbeiten oder einen 9er oder 10er Schraubenschlüssel ansetzen.

Und natürlich liegt darin verborgen die bloße Hoffnung und der Wunsch, menschliches Denken und Verhalten, Probleme, Vorgänge und Abläufe seien doch irgendwie berechen- und kalkulierbar - man müsse lediglich irgendwelche Zahlen sehr genau ermitteln und irgendwie sehr fachmännisch auswerten. Der Wunsch, es gäbe tatsächlich Experten, die genau wissen, was getan und vermieden werden muss, die man befragen kann, was man tun und lassen soll, um auf diese Weise auch ein Stückchen eigener Verantwortung sehr elegant loszuwerden.

Was solche „Experten” jedoch vielmehr lediglich tun, ist, dass sie ihre ganz persönliche Interpretation, Einschätzung und Meinung äußern - was keineswegs zu kritisieren ist, so lange deren schlichte Meinungsäußerung nicht als „wichtiger” und bedeutungsvoller hingestellt wird, als sei sie der Meinung jedes Otto Normalbürgers überlegen.
Letzteres jedoch ist alle Nase lang der Fall und wird - direkt vor aller Augen und offenbar trotzdem sehr unauffällig - bestärkt und gefördert, nicht nur in jeder zweiten Talkshow, sondern bei nahezu jeder Gelegenheit.

Bei jeder zweiten Talkshow etwa, wenn die Stühle mit diversen „Experten” zum jeweiligen Thema besetzt werden, während Otto Normalbürger netterweise die Möglichkeit bekommt, seine Meinung zwischendurch per Telefon oder eMail in die Sendung einzuwerfen, damit die „Expertenrunde” neuen Diskussionsstoff hat.
So, wie beispielsweise an einem „Thementag” eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders die noch immer herrschenden Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in Erziehung und Bildungsfragen thematisiert wurde, und eine Diplompädagogin auf Fragen von Hörern antwortete. Kaum ein Satz, der nicht eingeleitet wurde mit „Es gibt keine Studien, die belegen würden, dass...” oder „In Studien wurde festgestellt, dass...”.

Siehe oben: Es werden die schlichten Interpretationen, Einschätzungen und Meinungen diverser „Experten” als „wichtiger” und bedeutungsvoller hingestellt, als seien sie der Meinung jedes Otto Normalbürgers überlegen - und zwar genau in der Form, in der so getan wird, als würde es sich eben nicht nur um deren Meinungen handeln, sondern um exacte wissenschaftlich-objektive Erkenntnisse, über jeden Zweifel eines jeden ahnungslosen Laien erhaben.
Das Ganze hat auf den Otto Normalbürger zuweilen die Wirkung einer kompletten Packung Schlaftabletten: in einer trügerischen Gewissheit und einer Mischung von Sorg- und Arglosigkeit wähnt er sich in dieser heutigen Expertenwelt allerbestens aufgehoben, beschützt und sicher.

Amüsant formuliert ist das auch der Grund, warum Straßenschäden eine Weile lang nicht behoben, sondern stattdessen Schilder „Vorsicht Straßenschäden” aufgestellt werden; so ähnlich, wie Warnschilder „fehlende Fahrbahnmarkierung” nicht wirklich vor etwas warnen sollen, was der Autofahrer längst selbst bemerkt hat: man will dem Bürger lediglich zeigen, dass er ganz beruhigt sein kann, das Problem ist bekannt und es kümmert sich bereits jemand darum, also: „keine Sorge”.

Weniger amüsant formuliert wirkt sich das unter anderem so aus, dass sich jeder Experte von jeder (z.B.: moralischen) Verantwortung seiner guten Ratschläge problemlos befreien kann, indem er auf seine „Objektivität” verweist: „Objektivität” nämlich ist Lateinisch und heißt „die Sache betreffend” - und das heißt: eben nicht „die Menschen betreffend” über die „sachlich”(!) geplaudert wird und letztlich die Konsequenzen der Expertenratschläge ausbaden müssen. Schließlich geht es auch „um Tatsachen”, nur in Ausnahmefällen um Menschen.

Mehr noch: in der ganzen Normalität und Selbstverständlichkeit dieser Praktik wird das dann auch von Otto Normalbürger übernommen und angewendet. Mit dem Ergebnis, dass sich Müller absolut im Recht wähnt, wenn er seinen Nachbarn Meier auf's Übelste beschimpft und beleidigt, weil es schließlich „um die Sache”, nämlich um den Gartenzaun geht. So, wie auf der Überholspur der Autobahn eben auch ein Auto im Weg ist, das die freie Fahrt blockiert, und kein Mensch.

Sich dem Expertentum sorg- und arglos hinzugeben, ist jedoch nicht nur prekär in sämtlichen Belangen, in denen mit dem Etikett der „Wissenschaftlichkeit” über das Denken und Verhalten gemutmaßt wird (also eben u.a.: Soziologen, Psychologen, Pädagogen, auch Wirtschafts- und Politik-„Wissenschaftler”), sondern eigentlich noch schlimmer ist, dass Experten vielleicht tatsächlich echte Koryphäen auf ihrem Fachgebiet sind, ...jedoch eben auch nur dort und sonst nirgends und ansonsten völlig ahnungslos. Denn:

Man ist sich inzwischen bestens bewusst darüber, dass alles mit allem auf engste Weise miteinander verbunden und verknüpft ist: es gibt keine Veränderung in der Wirtschaft, die nur ausschließlich „die Wirtschaft” betrifft, und nicht auch weder die Natur, noch die Politik und Medienlandschaft, noch Kultur und Gesellschaft, noch die Wünsche, Hoffnungen und Probleme des einzelnen Menschen. Nur beispielsweise. Sondern dass überall extreme, hochsensible Gegen- und Wechselwirkungen stattfinden - und deshalb die Fachleute einzelner Fachbereiche nicht nur keine Lösungen ermöglichen, sondern das Ganze noch weitaus komplizierter machen.

Jedoch: wider besseren Wissens wird (zum Beispiel) „die Wirtschaft” als eigener Kosmos betrachtet, in dem es ausschließlich nur um wirtschaftliche Belange gehen würde, um die sich Wirtschaftsexperten kümmern müssten – während sich um die direkten und indirekten Folgen des Wirtschaftssystems wiederum andere Experten zu kümmern hätten, wie z.B. Politiker, Psychologen, Pädagogen, Ärzte, Anwälte, u.v.a. für „menschliche” Folgen, sowie „Greenpeace”, „Robin Wood”, „Food Watch”, Bürgerinitiativen, Journalisten u.v.a. für „sonstige” Folgen, um das Ganze irgendwie „umweltschonend und sozialverträglich” zu halten - wohlgemerkt: statt von vorn herein für die Vermeidung der etlichen Folgeprobleme zu sorgen.

Siehe oben: nur beispielsweise. Exact dasselbe passiert auf sämtlichen Ebenen des Lebens, in Unternehmen, Beruf und Karriere, Forschung, Medizin, Partnerschaft, Erziehung, Kriminalität, Verkehr, in Tier- und Naturschutz, etc, etc, etc, weil alles das als isolierte Fachgebiete betrachtet wird, für die jeweils eigene Experten ihre Fachkompetenz beanspruchen, und das im allgemeinen Verständnis genau so etabliert und anerkannt ist und (dadurch) gefördert wird.

Weil das jedoch von Grund auf fehlgedacht ist, resultieren daraus etliche Folge(!)- Probleme, für die wiederum die jeweiligen Experten konsultiert werden, und das Ganze wieder fröhlich von vorn.

 

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